Erwin Burgstaller
Walkman – Über einen ohne Zweifel Gehenden
Betritt der Besucher/die Besucherin die Atelier-Werkstatt des Bildhauers Erwin Burgstaller, hat er/sie eine Schwelle zu überschreiten, die augenscheinlich wird im schriftlichen Hinweis an der Tür, einem Zitat von Francis Picabia „Der Kopf ist rund, damit das Denken seine Richtung ändern kann“, und wir vernehmen Erwin Burgstallers Zuruf „Vorsicht, Sie leben auf einer Kugel!“, woraus sich nicht nur Konsequenzen für unser Sehen, Denken und Handeln ergeben. Permanente Herausforderung ist sie auch den figuralen Skulpturen des Künstlers in Alu und Bronze, die auf jene ganz große Kugel verweisen, die uns Bezugspunkt ist.
So kommt man schon im Werkstatt-Eingangsbereich kaum vorbei an einer „Weltbegegnung“, die unsere Handlungskoordinaten eindrucksvoll sicht- und be-greifbar macht:
Ein der Erdkugel erwachsener / in sie gesetzter / mit ihr untrennbar verbundener Planetarier zeigt Beständigkeit und Selbstbewusstsein. Als sei er frei von Last, widerspricht er mit unbekümmerter Eleganz der Logik des Alltags. Die sichere Faust umfasst das aus einem ungewissen Oben sich anbietende Seil.
Albert Camus diagnostiziert das Absurde des Geistes als Missverhältnis zwischen den menschlichen Bestrebungen und der Wirklichkeit.
Unter diesen Voraussetzungen experimentieren die vom Bildhauer ins Leben gerufenen Figuren, agieren und reagieren mit Schritten, Standpunkten und Körperpositionen, frei von Schicksal, losgelöst von allem, was sie nicht betrifft, stellen sie die Welt dar, in die sie gestellt sind:
ein- und aufgestellt, um den einen, den entscheidenden Schritt zu machen, auf scheinbar sicheren oder unsicheren, augenscheinlich beweglichen oder unbeweglichen Untergründen auszuharren; um zu bewegen - bewegt zu werden - sich fortzubewegen; zu drücken, zu schieben; zu heben, zu tragen, zu stützen; fest zu halten - sich fest zu halten; abzustoßen - sich abzustoßen; zu ziehen, angezogen zu werden.
Das Angedeutete vermittelt sich als Versuchsanordnung in der Unendlichkeit einer Wiederholungsschleife, wie die Dauerposition einer Grenzwertevaluierung.
Mit dem Inhalt des Dargestellten überschreitet Erwin Burgstaller die Grenzen des physikalisch Möglichen und Machbaren, im Arbeitsprozess, der von Konsequenz und Kontinuität sowie dem eigenen Perfektionsanspruch geprägt ist, nähert er sich diesen Grenzbereichen ständig an.
Zitat Gerhard Bruckmüller
„Wenn Burgstaller mit Unterstützung von Gießermeister Fred Defant Bronzegüsse in Wachsausschmelzverfahren anfertigt, gleicht sein Atelier einem alchemistischen Labor - alles ist penibel vorbereitet: das notwendige Handwerkzeug griffbereit, Reservewerkzeug ebenso, der Temperaturverlauf im Brennofen exakt aufgezeichnet, der Hohlraum der verlorenen Modelle in der heißen Gussform aufnahmebereit, der glühende Schmelztiegel, Kupfer und Zinn - eine gefährliche, schweißtreibende Arbeit.“
Seinen Werken liegen einfache Gedankengänge, Redewendungen, Fußnoten, Bilder, archetypische, mythische, religiöse, kulturgeschichtliche, philosophische oder politische Bezüge zugrunde.
Grundsätzlich kann alles, was dem Künstler zu-fällt, zum Thema einer Arbeit werden … das ist aber schon das Einzige, was bei Burgstaller mit Zufall zu tun hat.
Der Bildhauer will die Welt nicht erklären, er nähert sich ihr samt ihrer menschlichen Besonderheiten mal mit Witz, Ironie, spielerischer Leichtigkeit aber auch philosophischer Strenge, legt Hand an an die Welt und stellt in ihr mit den Mitteln der Bildhauerei Klarheit und Ordnung her.
Friedrich Dürrenmatt „Es geht um den Versuch, die Welt in den Griff zu bekommen. Das ist ein schöpferischer Akt (…)“
Albert Camus „Alles beginnt mit einer scharfsichtigen Gleichgültigkeit.“
Kugeliger Kopf, gesichtslos, doch den Blick gerichtet. Schlanke Figur, die sich in aufrechter Körperhaltung über die Spannung zwischen Kopf und Füßen definiert:
Walkman, der auf einem Ring Gehende mit frei ausschwingenden Armen. Auch als ein lässig daher schlendernder Flaneur taucht dieser Figurentypus auf. Seine Identität äußert sich im sicheren Schritt. Mit jedem öffnet er / eröffnet sich ihm die Welt. So durchmisst er Raum und Zeit, dehnt sie aus, ist aktive Gegenwart, in der eins wird Ursprung und Ziel.
Thomas Bernhard „Gehen“
„Wenn wir gehen (…), kommt mit der Körperbewegung die Geistesbewegung. (…) Wir gehen mit unseren Beinen, sagen wir, und denken mit unserem Kopf. Wir könnten aber auch sagen, wir gehen mit unserem Kopf.“
Erwin Burgstaller, 2012
„Die Welt verändert sich so schnell, dass wir laufen müssen, um Schritt zu halten. In Anbetracht der vielen Menschen, die außer Atem sind, habe ich beschlossen, moderat Maß zu halten.“
Unberührt von einem Davor und Danach, ist der auf-gesetzte, ohne Zweifel Gehende ein ständig und gleichzeitig bei sich Ankommender und von sich Weggehender. Trotz Gebundenheit in bestimmte Umstände und Verhältnisse nehmen wir den Walkman als völlig freien Daseinsentwurf wahr.
„In jedem genuinen Kunstwerk“, schreibt Theodor W. Adorno, „taucht etwas auf, was es nicht gibt.“ Kunst verweise auf ein Glücksversprechen, das als „Totalnegation der gegebenen Wirklichkeit“ gelesen werden könne.
Wie in einer Odyssee setzt der mit der Neugierde aber auch der Geduld eines Forschers handelnde Bildhauer den Gehenden verschiedenen Grenzsituationen aus, in denen der jeweilige Zustand menschlichen Befindens auf ein physikalisches Modell übertragen / reduziert wird.
Unterschiede in der Persönlichkeit und Individualität einzelner Figurentypen sind ablesbar in ihrer Körperhaltung, ihrer Dimensionierung, dem Spiel mit den Proportionen, der Betonung und Ausformung einzelner Körperteile, der Bewegung im Raum, der Gussnachbearbeitung.
Bronzeplastiken wie die „Flieger“, oder die „Schritt“-Darsteller erweitern ihren Wirkungsgrad, indem sie Raum, Zeit und damit ihre Koordinaten festlegen, gleichzeitig die kosmische Expansion im Augenblick verinnerlichen und diesen für den Betrachter intensivieren. Auch ein an exponierter Stelle hinterlassener „Aus-Sitzer“ ist als „Figur im Raum“ konzipiert.
In der Tat er- und ver-schaffen sich Burgstallers Figurationen Handlungsspielraum - am Rande der Scheibe ebenso wie in/mit der Drehung der Kugel.
„Wohin“ zeigt einen Wanderer, der sitzend die Runde macht, gleichzeitig zum Sinnbild für Entschleunigung wird, wenn Bewegung zur Ruhe kommt. Selbst die Räder, die die Geschichte der Menschheit zu einer Geschichte der Beschleunigung gemacht haben, stehen still, womit der Sich-bewegen-lassende über die Drehung der Erde möglicherweise weiter zu kommen scheint und das bei konstanter Geschwindigkeit, als wenn er sich womöglich in die falsche Richtung fortbewegt hätte.
Konrad Paul Liessmann „Lob der Grenze“: „Der Mensch ist das einzige Wesen, das anfängt und deshalb anfangen kann. (…) „Wenn Anfangen nur aus Freiheit geschehen kann, bedeutet dies allerdings, dass Anfänge nicht kalkulierbar sind.“
In jedem Anlassfall erkennen wir den Menschen, der die Hülle seiner Fremdbestimmtheit mit der Selbstbestimmtheit der Tat füllen kann, „das Experiment“ des Handelns wagt, die Position der Autonomie hält, im „Schritt“, im Versuch des Fort-Schritts zu innerer Freiheit findet.
Der Philosoph Theodor W. Adorno sah in Odysseus den ersten Charakter, der sich nicht den Göttern und dem Schicksal ergebe, (…) zum Herrscher über sein eigenes Geschick werde.
(Er) wurde (…) zum Urbild des Weltenwanderers und des menschlichen Forschungstriebes, die Odyssee zur „Urgeschichte der Subjektivität“.
Gesichtsloser, kugeliger Kopf, nach vorne geneigt, der Blick fällt nach unten,
eine letzte Aufforderung der Umstehenden, „Steig herab vom Kreuz!“, bleibt, wie nicht anders zu erwarten war, unerhört, geht andererseits ins Leere, denn dieser Mensch entspricht keinem Nageltypus mehr, ist befreit von Hoch- und Querbalken und hält dagegen die weit ausgebreiteten Arme.
Hier darf ich verweisen auf Erwin Burgstallers 10 m langen und auch inhaltlich beeindruckenden Kreuzweg als Betonguss in der Pfarrkirche Wels-Vogelweide sowie die Kreuzwegdarstellungen in Bronze für die neue Pfarrkirche seiner Heimatgemeinde Gallspach.
Thomas Bernhard „Gehen“:
„Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst, (…), das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen.“
Ein (nach Camus) „zum Nullpunkt äußerster Konzentration geführte(r)“ Figurentypus stellt auch der „Zeichner“ dar, ein in seiner Zuständigkeit die Linie Haltender, geschaffen, um seine Spur an der weißen Wand zu hinterlassen. Zeitlos, unlesbar, unsichtbar.
Albert Camus „Kunstwerke besagen mehr, als sie bewusst aussagen.“
Erwin Burgstallers figurale Raum-Zeit-Zeichen, die auf die Menschheit / auf das Mensch-Sein verweisen, bei aller inhaltlichen Aktualität treffende zeitlose Aphorismen darstellen, erreichen mit einem Schritt unser Innerstes - besondere Voraussetzung, um den Status von Kultfiguren zu erlangen.
Sie sind sosehr ausbalanciert und das nicht nur heute zur Tag-und-Nacht-Gleiche, dass ihnen auch eine (aus unserer Sicht) bedrohliche/lebensbedrohliche Positionierung nichts anzuhaben vermag und so befragen sie uns nach unserem eigenen Auf-Tritt, unseren Auf-Brüchen, Überschreitungen, Eroberungen, Höhenflügen und planetarischen Beobachtungen.
Gerhard Richter
„Es ist ein beständiges Kriterium beim Umgang mit Kunst, dass sie etwas berühren soll, das über uns hinausgeht, damit hat sie etwas Zeitloses.“
Obwohl in Burgstallers Plastiken angesichts der Fragwürdigkeit ihres Tuns in Bezug auf ihre Möglichkeiten oder die ihnen dargereichten Unmöglichkeiten Fragen nach der Orientierung in Raum und Zeit, nach dem „Woher?“ und „Wohin?“ für uns nur angedacht bleiben, glaubt man in ihnen immer wieder auch versteckte Botschaften (an unbekannt) wahrzunehmen. Doch ihre Aussage entbehrt jeder Dekoration, die Übertreibung wird zur Untermauerung des Wesentlichen genutzt: Reduktion in der Kunst gegen die große globale Sprechblase.
Online ist der Künstler nach wie vor nur in und mit seinem Werk.
Albert Camus
„Und am Ende ist in diesem Klima der große Künstler vor allem ein großer Lebender, der begriffen hat, daß Leben ebensosehr Erfahren wie Nachdenken ist. Das Kunstwerk ist also die Inkarnation eines intellektuellen Dramas.“ (…) „Wenn die Welt klar wäre, gäbe es keine Kunst.“
Ein fast röntgenbildhaft modellierter Erdling hat die Welt zwar auch noch nicht im kleinen Finger, lässt aber auf seinem Zeigefinger die sich drehende Kugel mit beschaulicher Freude und immer noch vorhandener Neugierde balancierend zur Ruhe kommen.
Thomas Bernhard:
„Das Problem ist immer, mit der Arbeit fertig zu werden, in dem Gedanken, nie und mit nichts fertig zu werden. Es ist die Frage: weiter, rücksichtslos weiter, oder aufhören, Schluss machen. Es ist eine Frage des Zweifels, des Misstrauens und der Ungeduld.“
Da legt sich Erwin Burgstaller fest: „Es gibt niemals den Umstand, dass es nichts zu tun gibt.“ ZE
Denn noch geht die Sonne auf, gemäß dem biblischen Wort, „über Böse und Gute“, und die Erde lebt. Der „Schaukler“ hängt dazwischen, den „Hintern“ – so Wolfgang Amadeus Mozart während einer beschwerlichen Kutschenfahrt – „in Lüften haltend“.
Sein Anblick vermag uns Erwachsene zu irritieren, zu erleichtern, zu besinnen und in gedankliche Ausschweifungen zu versetzen. Er stößt uns an, während wir uns erlauben, ihn ins Spiel zu bringen.
Norbert Trawöger („Spiel“): „Schaukeln ist für mich wie das Drücken des Resetknopfs, das meinen Urzustand für Momente wiederherstellt. (…) Oscillo, ergo sum. Ich schaukle, also bin ich.“
Angekommen im Augenblick, gerät der Weltenwanderer auf dem sich weiter bewegenden Untergrund physisch in Rast, nimmt Platz als „Betrachter“, als „Sitzer“, die Handflächen beidseitig aufgestützt. Nachdenklich. Ist da noch jemand? Die vorsichtige Andeutung, an seiner Seite zu verweilen, gilt uns allen.
Im „Paar“ findet Burgstaller zu einer Formvollendung aus Linie, Fläche, Raum und Volumen – zwei ablesbare Individuen mit- und ineinander eins mit sich, in der offenen Verschlingung einander Freiraum schaffend, in der geschlossenen Form größtmögliche Einheit werdend.
Von den Mobiles wird selbst der zarteste Lufthauch menschlicher Anwesenheit aufgenommen und im Rahmen der Konstruktion in sensible Raumzeichnungen übertragen.
Solche modelliert der Künstler auch als unterschiedlich dimensionierte „Möbiusknoten“, macht so die Unendlichkeit des Lebens als reduziertes, gleichzeitig hochästhetisches Ereignis einer umfassenden Weltsicht anschaulich – mit einer zweidimensional verdrehten Fläche, auf der Orientierung schwer fällt, denn zwischen unten und oben oder zwischen innen und außen kann nicht unterschieden werden.
Viele Arbeiten des Künstlers suchen nach Ausgeglichenheit und Ruhe, befragen unsere Zeit-Räume, regen an zu Kontemplation und Besinnung.
Erwin Burgstaller: „Es gibt sicherlich Werke, die auf Langsamkeit abzielen. (…) Sie erschließen sich nicht im kurzen Hinschauen, sondern fordern oder verlangen Zeit.“
Zur weiteren Vertiefung in die Weltsicht des Bildhauers Erwin Burgstaller nehmen Sie gerne sein hier aufgelegtes Kunstbuch zur Hand und sie werden, noch bevor sie zu blättern beginnen, auf den ersten Blick erkennen, dass auch Sie die Welt in Ihrer Hand haben.
Gerade jetzt, wo wieder einmal die Zukunft der Welt auf dem Spiel steht und die sich verbreitende Angst vor Kontrollverlust Unsicherheiten schafft und Illusionen fördert, sucht der Mensch nach Klarheit und Beständigkeit.
„Der Kopf ist rund, damit das Denken seine Richtung ändern kann.“
Kommen Sie ins Gespräch, gerne auch mit dem Künstler, der seine Lebenshaltung aus Überzeugung so beschreibt: „Ich arbeite sehr strukturiert. Ich will das, was ich tue, wirklich – technisch, handwerklich, künstlerisch – unter meiner Kontrolle wissen.“
Wie in den Arbeiten Erwin Burgstallers wirklich gemacht ist das Unmögliche, so ist der Mensch, der im Grunde immer ein Gehender / ein konsequent Weitergehender ist, aufgefordert, bei all der gebotenen Vorsicht auf unserer Kugel gerade zur Zeit bestimmt und selbst-bewusst zu handeln.
Aus „Im Anfang war das Wort“ wird (wie bei Johann Wolfgang von Goethe) „Im Anfang war die Tat“.
Mit Blick in die Fernsehkamera meinte dieser Tage ein Erdling zur aktuellen Verfasstheit Europas:
„Die Sonne macht mir Hoffnung.“
Wolfgang Maria Reiter, 20.03.2022